PRESSEMITTEILUNG

6. GIMBE-BERICHT

NATIONALER GESUNDHEITSDIENST AM ENDE: DAS RECHT AUF SCHUTZ DER GESUNDHEIT STEHT IN FRAGE.

ITALIENS PRO-KOPF-AUSGABEN FÜR DIE ÖFFENTLICHE GESUNDHEIT LIEGEN  UM 48,8 MILLIARDEN EURO UNTER DEM EUROPÄISCHEN DURCHSCHNITT.
DAS GEWALTIGE NORD-SÜD-GEFÄLLE WIRD NUN AUCH DURCH DIE „DIFFERENZIERTE AUTONOMIE“ LEGITIMIERT.
DIE GIMBE-STIFTUNG APPELLIERT FÜR EINEN POLITISCHEN UND SOZIALEN PAKT ZUR STÄRKUNG DES ÖFFENTLICHEN GESUNDHEITSDIENSTES

10. Oktober 2023 – Stiftung GIMBE, Rom

Die Stiftung GIMBE hat im Kapitelsaal des italienischen Senats den 6. Lagebericht über den Nationalen Gesundheitsdienst (SSN) vorgestellt: „Die Gründungsprinzipien des SSN, nämlich Universalität, Gleichheit und Gerechtigkeit – so Präsident Nino Cartabellotta – sind verraten worden. Heute zeichnet sich der nationale Gesundheitsdienst – der am Ende seiner Kräfte ist und das tägliche Leben der Menschen, insbesondere der sozial schwächeren  Gruppen, beeinträchtigt – durch ganz andere Merkmale aus, etwa endlose Wartezeiten, überfüllte Notaufnahmen, die Unmöglichkeit, einen Haus- oder Kinderarzt in der Nähe des Wohnortes zu finden, unannehmbare regionale und lokale Ungleichheiten, Abwanderung von Fachpersonal und Patienten aus dem öffentlichen Gesundheitswesen, Zunahme der privaten Ausgaben, Verarmung der Familien und sogar Verzicht auf Versorgung“.

„Nachdem der nationale Gesundheitsdienst seit über 15 Jahren von allen bisherigen Regierungen unablässig geschwächt wurde“, so Cartabellotta, „ist es völlig zwecklos, die bröckelnden Grundlagen der Gesundheitsversorgung und die Unannehmlichkeiten für die Bevölkerung für politische Schuldzuweisungen an das jeweils andere Lager auszuschlachten und zu rätseln, welche Regierung dem Gesundheitswesen die meisten Ressourcen entzogen hat. Wir bewegen uns derzeit sowieso unaufhaltsam von einem nationalen Gesundheitsdienst, der auf dem Schutz eines verfassungsmäßig verankerten Rechts beruht, hin zu 21 regional abgekoppelten Gesundheitssystemen, die den Gesetzen des freien Marktes unterliegen. Hinzu kommt ein strukturelles Nord-Süd-Gefälle, das durch die sogenannte „differenzierte Autonomie“ nun normativ legitimiert wird“.

Cartabellotta erinnerte an die jüngste Rede von Ministerpräsidentin Meloni, wonach „es kurzsichtig wäre, die gesamte Diskussion auf den Ausbau der Ressourcen zu reduzieren, denn wir müssen auch darüber diskutieren, wie diese Ressourcen ausgegeben werden„. Angeblich gebe es „potenziell große Spielräume für Ressourceneinsparungen in verschiedenen Bereichen: überflüssige Leistungen wegen der „defensiven“ Haltung der Mediziner und der unangemessenen Inanspruchnahme der Dienstleistungen, unzureichende Nutzung wirksamer Angebote, Betrug, überteuerte Einkäufe, unnötige Bürokratie sowie unzureichende Koordination der Versorgung, insbesondere zwischen stationären und ambulanten Einrichtungen. Die Einsparung dieser Ressourcen – so Meloni weiter – erfordere jedoch eine tiefgreifende Umstrukturierung des nationalen Gesundheitsdienstes, einschneidende Reformen, die Aus- und Fortbildung von Fachkräften und die Information der Bevölkerung über die Angemessenheit diagnostischer Untersuchungen und Therapien: Dies sind keine Ressourcen, die kurzfristig kapitalisiert werden können wie solche, die dem Fiskus durch Steuerhinterziehung entzogen werden“.

Deshalb fordert die Stiftung GIMBE fast 45 Jahre nach der Einführung des nationalen Gesundheitssystems einen sozialen und politischen Pakt, der unabhängig von Partei-Ideologien und Regierungswechseln das Modell der öffentlichen, gerechten und universellen Gesundheitsversorgung wiederbelebt, bildet es doch eine Säule unserer Demokratie, eine unverzichtbare soziale Errungenschaft und einen wirksamen Hebel für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.

„Der besorgniserregende Gesundheitszustand des SSN – so Cartabellotta abschließend – erfordert ein tiefgreifendes politisches Umdenken: Die Zeit für eine rein routinemäßige Finanzierung des nationalen Gesundheitsdienstes ist jetzt abgelaufen, da seine Gründungsprinzipien zerbröckelt sind und das verfassungsmäßige Recht auf Schutz der Gesundheit zunehmend untergraben wurde. Jetzt ist es an der Zeit, sich zu entscheiden: Entweder es werden mutige Reformen und Investitionen eingeleitet, die den nationalen Gesundheitsdienst zu seiner ursprünglichen Aufgabe zurückführen, oder der Staat gibt offen zu, dass sich unser Land dieses Modell nicht mehr leisten kann. In letzterem (unerwünschten) Fall kann sich die Politik aber nicht mehr vor der unpopulären Entscheidung drücken, einen rigorosen Privatisierungsprozess zu steuern, der sich seit Jahren schleichend vollzieht und die Schwächung der öffentlichen Gesundheitsversorgung ausnutzt. Die GIMBE-Stiftung bekräftigt mit dem Wiederbebungsplan des SSN, dass der Kompass immer und in jedem Fall Artikel 32 der Verfassung bleiben muss, denn wenn die Verfassung das Recht auf Gesundheit für alle schützt, muss die Gesundheitsversorgung für alle garantiert werden“.

Der Präsident fasste Daten, Analysen, kritische Fragen und Vorschläge zusammen, die im Bericht enthalten sind: von der öffentlichen Finanzierung bis zu den Ausgaben für die Gesundheitsversorgung, von den wesentlichen Betreuungsstandards bis zu regionalen Ungleichheiten und der Mobilität im Gesundheitswesen, vom Personal bis zur PNRR-Mission „Health“ und zum SSN-Wiederbelebungsplan.